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Coronakrise: Warum Senioren lieber sterben wollen, als isoliert zu sein“

Seniorin schaut traurig aus dem zuhen Fenster.

Kein Besuch. Kein Garten. Keine Sonne. Seit sechs Wochen hat so mancher Senior sein Zimmer im Pflegeheim kaum verlassen. Senioren sollen vor dem Coronavirus geschützt werden – aber niemand hat gefragt, ob sie das auch möchten. Schließlich macht nicht nur der Virus Covid-19 krank, sondern auch die erzwungene Abschottung.

Senioren isoliert im Heim – im Strafvollzug nennt man einen solchen Zustand Einzelhaft.

Das Schlimmste ist gar nicht die Einsamkeit. Es ist nicht das Verbot, mit dem Rollstuhl in den Garten zu fahren, wo die Frühlingssonne scheint. Es ist nicht die Stille und nicht die Menschenleere auf den Fluren und schon gar nicht die Angst vor dieser vermaledeiten Seuche, namens Covid-19. Es ist die Tatsache, dass niemand gefragt hat. Vierzehn Quadratmeter. Ein Bett. Ein Stuhl. Ein Fernseher. Ein kleiner Beistelltisch. Das ist das Reich von vielen Senioren in ihrem Pflegeheim. Seit sieben Wochen haben sie kaum etwas anderes gesehen. Die meisten Bewohner sind über 80 Jahre alt und haben Vorerkrankungen. Somit gehören Senioren in Pflegeheimen zur Risikogruppe für Covid-19, die es zu schützen gilt. Und aus diesem Grund dürfen Senioren keinen Besuch empfangen und nicht hinausgehen. Frühstück, Mittag und Abendbrot wird allein im Zimmer zu sich genommen. Wenn es zu einem Corona-Verdachtsfall unter den Pflegern kommt, dürfen Senioren im Altenheim, noch nicht einmal mehr auf den Flur vor ihrem Zimmer. Im Strafvollzug nennt man einen solchen Zustand Einzelhaft.

Senioren wird durch Isolation das letzte bisschen Glück am Lebensende genommen

Die Isolierung von Älteren ist eine Verletzung der Selbstbestimmtheit. Auch im Alter gibt es ein Recht auf Selbstbestimmung und Freiheit. So formuliert der Deutsche Ethikrat: „Auch wenn es im Alter aufgrund von Einschränkungen und Krankheit immer mehr pflegerischer Unterstützungsleistung bedarf, steht die Selbstbestimmung des Menschen an erster Stelle.“ Das gilt auch zu Corona-Zeiten. Klar, wir alle leben im Moment mit Einschränkungen unseres normalen Lebens. Das Besondere an der Situation von Senioren ist aber: Das, was ihnen genommen wird, ist ihr komplettes bisschen Glück am Lebensende. Das, was die Qualität ihrer letzten Tage ausmacht.

Senioren Isoliert: „So wollen wir nicht leben!“

 

Mann sitzt im Rollstuhl und schaut aus dem Fenster des Seniorenheims.
Das ist kein Schutz. Das ist eine Qual. Senioren allein gelassen und hermetisch abgeriegelt im Seniorenheim.

Es ist ja schön, dass wir Menschen so viele Anstrengungen unternehmen, um Leben zu retten, doch Zweifel an der Umsetzung bleiben. Wir nehmen für die Rettung von Senioren unfassbar viel auf uns, doch tun wir diesen Menschen dabei nicht doch Schlimmes an, was wir persönlich wirklich selbst nicht so wollen, wenn wir mal alt sind. Die WHO definiert Gesundheit auch als geistiges Wohlbefinden des Einzelnen. Daraus wäre abzuleiten, dass Besuche und Anwesenheit von Familie sowie Ausgang von Älteren zur Gesundheit beitragen. Doch diese Gesundheit nehmen wir Senioren einfach weg. Von vielen Senioren hört man die letzten Tage oft: „So will ich nicht leben!“ Vor ein paar Wochen bekamen einige wenigsten noch Besuch von Freunden oder Angehörigen. Für ein Schwätzchen und ein Stück Kuchen. Liebevolle Berührungen von Angehörigen.

Senioren zur Isolation: “Das ist kein Schutz. Das ist eine Qual.”

Die Alten isolieren, damit der Alltag aller Übrigen wieder fauchend anlaufen kann wie die Kolbenstangen einer Dampflok? Es sind nicht wenige, die genau das fordern. Die Gesellschaft solle “Menschen über 65 Jahre aus dem Alltag herausnehmen“, sagt der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne). Man solle “die Risikogruppe der Älteren isolieren”, sagt auch sein Düsseldorfer Amtskollege Thomas Geisel (SPD). Herausnehmen. Isolieren. Das klang unschön. So sprechen Jäger. Und auch Bundeskanzlerin Angela Merkel mahnt: Im Moment sei “nur Abstand Ausdruck von Fürsorge”. Ist das so? Auch wenn es sich nicht anfühlt wie Fürsorge? Viele Senioren sehen das ganz anders als die Kanzlerin. “Das ist kein Schutz. Das ist für uns eine Qual.” Der Staat muss es schaffen, die Erhaltung der Selbstbestimmtheit, der Würde und geistigen Gesundheit mit dem Schutz vor Infektionen zu verbinden. Das ist mühsam, eventuell teuer. Mit Blick auf eine zweite Welle kann es aber nicht sein, dass alte Menschen den dringend notwendigen Kontakt komplett und dauerhaft verwehrt bekommen. Pflegeheime und Pflegende brauchen bei dieser Aufgabe eine wirkungsvolle Unterstützung der Politik.

Wir werden alle einmal sterben – doch wie wollen wir die letzte Lebenszeit verbringen?

Senior sitzt alleine am Küchentisch und ißt seine Suppe.
Viele Senioren wissen, dass sie nur noch eine begrenzte Lebenszeit haben. Wenn dieses Leben der Preis dafür ist, nicht an Corona zu sterben, dann möchte viele Senioren gar nicht geschützt werden.

Viele wissen, dass sie nicht mehr so lange zu leben haben. Der Gesundheitszustand von manchen verschlimmert sich von Tag zu Tag, als das er sich verbessert. Doch das gehört zum Altern dazu. „Alt werden ist ja auch nichts für Schwächlinge“, erzählt mir Peter Frings, 90- jähriger Senior aus Hannover. „Das ist nicht schlimm. Wir werden alle einmal sterben.“ Aber niemand hat die Senioren gefragt, ob sie ihre letzte Lebenszeit so verbringen möchten. Isolation verändert Körper und Seele. Die Konzentration schwindet, die kognitive Leistungsfähigkeit sinkt. Viele Senioren würden, wenn sie Covid-19 bekämen, sicher nicht beatmet werden wollen. Sehr wohl aber würde sie wollen, dass sie, wenn sie im Sterben liegen, einen Angehörigen bei sich haben und nicht allein sein. Für Senioren, als auch deren Angehörige, sind diese Tage eine stärkere Belastung. Besonders psychisch leiden viele Menschen unter Einsamkeit. Anderen macht es zu schaffen, dass sie ihre Angehörigen im Pflegeheim nicht besuchen können. Besonders hart trifft es Senioren, deren Partner im Pflegeheim sind und die sie jetzt nicht besuchen dürfen.

3,4 Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig

Rund 3,4 Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig. Die Hälfte von ihnen wird von Angehörigen zuhause betreut, ein Viertel mit Unterstützung von Pflegediensten. Ein weiteres Viertel lebt vollstationär in einem von 14.500 Pflegeheimen. Das sind 850.000 Menschen. In der Altersgruppe der über 80-Jährigen ist etwa jeder Fünfte pflegebedürftig. Das sind mehr als eine Million Menschen, die jetzt im letzten Kapitel ihres Lebens noch größere Einsamkeit erleben als ohnehin schon.

Soll man 17,8 Millionen Senioren notfalls isolieren?

Risikogruppen schützen. Das klingt vernünftig. Risiko ist nicht gut, das haben wir alle gelernt. Risiken muss man vermeiden, so gut es geht. Aber der Preis dafür ist hoch. 17,8 Millionen Menschen in Deutschland sind älter als 65. Soll man die alle notfalls gegen ihren Willen “isolieren” und “herausnehmen”? Natürlich kennen viele Senioren die Fälle von Masseninfektionen in Seniorenheimen. Das Sterben. Die Bilder der Särge. Trotzdem bleibt die Frage: “Auf welche Zukunft hin werde ich mit Isolation gequält? Wenn dieses Leben der Preis dafür ist, nicht an Corona zu sterben, dann möchte ich gar nicht geschützt werden.” Denn woran man letztendlich stirbt, spiele am Ende ja keine Rolle.

Vor dem Tod selbst haben die Menschen im Pflegeheim meist keine große Angst.

Ein Mann einsam und allein unterwegs auf einem Friedhof
Der Tod ist für viele Senioren das nächste große Abenteuer. Wie er kommt, ob mit Covid-19 oder durch einen Herzinfarkt oder wie auch immer spielt keine Rolle.

Der Tod, hat in diesem Wartesaal namens Pflegeheim seinen Schrecken verloren. Viel größer als die Angst, zu sterben, sei an solchen Orten die Angst, in Unwürde und ohne Sinn zu leben. Viele Menschen in Alten- und Pflegeeinrichtungen wissen, dass das nächste große Abenteuer, das jetzt noch kommt, der Tod ist. Und für viele Menschen, die bereits den größten Teil ihrer Lebensreise hinter sich haben, ist das auch völlig in Ordnung. Vor dem Tod selbst haben diese Menschen meist keine große Angst. Sehr wohl aber vor einem qualvollen Leiden auf dem Weg dahin. Weiterleben um des Lebens willen, noch mehr Jahre sammeln – das ist im hohen Alter kein Wert an sich. Es ist die Qualität des letzten Kapitels, die zählt. Die Glücksoptionen aber werden immer geringer. Die Sinne schwinden, die Kräfte auch. Alle paar Wochen Besuch, ein paar Worte auf dem Flur, die gemeinsamen Mahlzeiten – das war es, was vielen Senioren Freude schenkte. Das nun auch noch zu verlieren, bedeutet ein unermessliches Opfer. Und das beklemmende Gefühl, den Zeitläufen gegen ihren Willen ausgeliefert zu sein, führt viele ältere Senioren in der Erinnerung weit zurück in ihre Kindheit. Da saßen sie als Kinder im Luftschutzkeller. Das ohrenbetäubende Donnern der Bomber, das Krachen der Flack und das Heulen der Bomben bevor sie aufschlugen. Ohne zu wissen ob man der nächste ist, ohne zu erahnen was hinterher noch übrigblieb. Es sind die verschütteten Gefühle dieses Ausgeliefertseins, die viele ältere Senioren jetzt einholen.

Isolation von Senioren kann nicht die Lösung sein

https://www.youtube.com/watch?v=V6-0kYhqoRo Wer erinnerst sich nicht an den damaligen Weihnachtsclip von EDEKA. Er beschreibt genau die Situation, in der sich Senioren gerade befinden. Allein und isoliert. Natürlich sind die Gesundheit und der Schutz vor der Ansteckung mit Corona gerade für ältere Menschen vorrangig. Das verlangt schon die Fürsorgepflicht von Heimbetreibern. Deshalb können auch ihre Freiheitsrechte eingeschränkt werden. Eine dauerhafte Isolation und Lockerungen für alle anderen ist jedoch keine Lösung. Auch mit Blick auf ältere Menschen muss über einschränkende Maßnahmen immer wieder diskutiert werden: Denn ihre Sorgen dringen nur über Angehörige und Pfleger nach außen. Sie selbst sind meist nicht mehr in der Lage, diese lautstark mitzuteilen, wenn sie es überhaupt wollen.

Ein erster Schritt von Senioren aus der Isolation

Bund und Länder haben an diesem Mittwoch über weitere Lockerung in der Corona-Krise gesprochen. Neben der gelockerten Kontaktbeschränkung ging es auch um eine Lockerung für Pflege- und Seniorenheim sowie Behinderteneinrichtungen. So dürfen Bewohner dieser Einrichtungen fortan von einer festen Kontaktperson besucht werden. Das ist zwar keine komplette Lockerung, jedoch unter dem Gesichtspunkt der besonders betroffenen Zielgruppe ein durchaus guter Schritt. Merkel stellte auch klar, dass ihr ältere Menschen sehr wichtig sind. Merkel sagt auch: „Wichtiger ist, dass wir Schritte vorankommen und Perspektiven geben, als dass wir gar nicht vorankommen.“ Heißt: Eine langsame Rückkehr zur Normalität unter Beachtung der Gesundheit der Menschen ist der richtige Weg.

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